Der Ort der Annahme1

Ausgangspunkt

„Welche Bedingungen und möglicherweise auch praktische Ausarbeitungen dienen dem Ziel, dass Menschen vertraut werden mit Erfahrungen der Transzendenz und der Tiefe des Daseins, dass Menschen ermutigt werden, zu glauben an Gottes Reich, dass sie sich zuhause fühlen in Riten, Symbolen und dem, was der Sprache des Glaubens eigentümlich ist…?“

Diese Fragen hat Evert Jonker (1996,6) formuliert im Blick auf die katechetische Begleitung vor allem von Gruppen. In diesem Artikel nehme ich diese Fragen als Ausgangspunkt für einige theologische Reflektionen über die seelsorgliche Begleitung von (vor allem) Einzelpersonen. Dabei beschränke ich mich, was den Inhalt betrifft, auf ein zentrales Thema der Sprache des Glaubens, nämlich auf die Lehre der Rechtfertigung allein durch den Glauben, ohne des Gesetzes Werke. Ich stelle die Frage, welche Erfahrungen Menschen machen können, in denen sie einen Zugang finden zu dem, was mit dem Wort „Rechtfertigung“ gemeint ist. Insbesondere werde ich untersuchen, was die „wertorientierte Imagination“ nach U. Böschemeyer hierzu beitragen kann. Davon werde ich drei Beispiele aus meiner eigenen psychotherapeutischen Praxis beschreiben und kurz besprechen. Danach werde ich die Frage nach dem „Wahrheitsgehalt“ der Symbole aus den Imaginationen thematisieren. Weiter werde ich auf die Frage eingehen, inwiefern das Suchen einer inneren Erfahrung der Rechtfertigungsbotschaft als einem „verbum externum“ gerecht werden kann.

Rechtfertigung und Annahme

In der Sprache des Glaubens nimmt in der evangelischen (insbesondere der lutherischen) Tradition die Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, ohne des Gesetzes Werke, einen zentralen Platz ein. Diese Lehre wird gesehen als der „articulus stantis et cadentis ecclesiae“: wo dieser Artikel gelehrt (und gelernt) wird, dort ist Kirche. Wo das nicht geschieht, kann von Kirche nicht die Rede sein, so die lutherische Orthodoxie (Köhler 329).
Freilich ist empirisch gesehen nicht zu bestreiten, dass der Begriff „Rechtfertigung“ mit seiner theologischen Ladung selbst von vielen regelmäßigen Kirchgängern nicht mehr verstanden wird. An diesem Punkt ist sogar für sie die traditionelle Sprache des Glaubens eine Fremdsprache geworden.
Das ist der Grund, warum vor allem Paul Tillich als systematischer Theologie sich berufen fühlte, für eine Übersetzung zu plädieren. Er schlug vor, den Begriff „Rechtfertigung“ zu ersetzen durch den Begriff „Annahme“:

Da “Rechtfertigung” ein biblischer Ausdruck ist, kann er auch heute in den christlichen Kirchen nicht vermieden werden. Aber in der Praxis des Unterrichts und der Predigt sollte er durch das Wort “Annahme” ersetzt werden. Annahme bedeutet: Wir sind von Gott angenommen, obwohl wir nach den Kriterien des Gesetzes unannehmbar sind (das Gesetz stellt unser essentielles Sein gegen unsere existentielle Entfremdung). Wir sind aufgefordert anzunehmen, dass wir angenommen sind. (1966, 258)

Eine praktisch-theologische Übersetzung bezieht sich weniger als eine systematisch-theologische auf das Denken und auf die Probleme, die das Denken möglicherweise mit der Rechtfertigungslehre hat. Der praktische Theologe interessiert sich mehr für die Erfahrungen, die Menschen heutzutage machen mit „Annahme“: wo, wann und von wem fühlen sie sich wohl oder nicht angenommen? Was sind die Bedingungen dafür, dass sie wohl oder nicht annehmen können, dass sie angenommen sind? Das ist der empirische „Pol“ der (bipolaren) praktischen Theologie. Der andere „Pol“ fragt in diesem Fall nach dem Gefälle biblischer und dogmatischer Aussagen über „Rechtfertigung“ und nach einer theologisch zu verantwortenden Übersetzung. Diese beiden „Pole“ bringt der praktische Theologe mit einander in ein (beiderseits konstruktiv-kritisches) Gespräch.

Die Seelsorgebewegung hat sich den Vorschlag von Tillich zueigen gemacht. Nicht zufällig ist im deutschen Sprachgebiet für das, was in den Niederlanden zumeist „therapeutische Seelsorge“ genannt wird, „annehmende Seelsorge“ die übliche Bezeichnung. Alles dreht sich um „Annahme“. „Wahrnehmen und Annehmen“ lautet der programmatische Titel eines bekannten Buches von Dietrich Stollberg (1978). Annehmende Seelsorge ist darauf ausgerichtet, dass im Kontakt mit dem Seelsorger der Gesprächspartner erfahren kann: ich werde angenommen – vom Seelsorger und (auch wenn das vielleicht nicht explizit ausgesprochen wird) von Ihm, in dessen Namen der Seelsorger mir zuhört und mit mir spricht.
Theologische Kritik an der Verwendung des Begriffs „Annahme“ als Synonym für „Rechtfertigung“ in der annehmenden Seelsorge hat vor allem Helmut Tacke (1979, 127-146) vorgebracht. Er sieht darin einen Missbrauch des „pro me“, da hier die explizite christologische Untermauerung und damit die Verankerung im „extra nos“ fehle.
Es ist allerdings die Frage, ob es theologisch legitim ist, die Gegenwart Christi so sehr abhängig zu sehen von der Frage, ob er explizit mit Namen genannt ist. Kann der rechtfertigende Christus nicht genauso gut in der Gestalt des annehmenden Nächsten (hier: des Seelsorgers) begegnen wie in dem „geringsten Bruder“ von Matthäus 25?
Und was die Unterscheidung zwischen dem „extra nos“ und dem „in nobis“ betrifft: secundum rationem essendi ist es zweifellos nötig, diesen Unterschied zu postulieren. Aber secundum rationem cognoscendi (bzw. experiendi) ist das Primäre die Erfahrung: „ich werde angenommen“. Demgegenüber ist das Identifizieren des Subjekts („wer ist derjenige, der mich annimmt?“) sekundär. Schaut man nur auf die ausgelösten Gefühle, so ist der Unterschied zwischen einer Annahme durch mich selbst oder durch einen anderen Menschen oder durch Gott kein prinzipieller.
 

Annahme erfahren

Wo und wie kann Annahme fühlbar werden? In der annehmenden Seelsorge wird hierauf geantwortet: exemplarisch im Kontakt mit dem annehmenden Seelsorger.
Als Ergänzung werde ich in diesem Artikel einen Zugang zur Erfahrung von Annahme darstellen, der in den letzten 15 Jahren entwickelt worden ist, wenn auch außerhalb des Diskurses der Vertreter des Faches Seelsorge. Es handelt sich um die von dem Theologen, Psychotherapeuten und Logotherapeuten Uwe Böschemeyer (1996, 2005, 2007) entwickelten „wertorientierten Imaginationen“. Darunter versteht er eine Art aktive Traumreisen, vorzugsweise zu bestimmten “Orten” in der unbewussten “Welt”, die bestimmte Werte symbolisieren wie z.B. „der Ort der Liebe“ oder „der Ort der Heilung“.
Als ich selbst als Therapeut tätig war, habe ich mehrfach mit dieser Methode gearbeitet. Mit einigen Klienten, denen es schwer fiel, sich selbst anzunehmen oder zu glauben, dass jemand anders sie annehmen könne, bin ich auf die „Reise“ gegangen zu dem „Ort der Annahme“. Von diesen „Reisen“ werde ich im Folgenden drei Beispiele beschreiben und jeweils kurz besprechen.

Frau D.
Frau D. war eine Studentin (Jura) von 27 Jahren. Sie fühlte sich in vielerlei Hinsicht unsicher, konnte schwer nein sagen und verletzte sich manchmal selbst. Anlässlich eines Traums erzählte sie, dass sie sich noch immer eine Reihe von Kleinigkeiten vorwarf: so hatte sie z.B. als Kind das Nachbarmädchen einmal einige Minuten eingesperrt und einmal das Eis eines anderen Kindes aufgegessen.
Weil ich den Eindruck hatte, dass es in ihrem Leben einen deutlichen Mangel an (Selbst-) Annahme gab, schlug ich ihr in der 5. Sitzung eine Imaginationsreise zum „Ort des Angenommen-Seins“ vor. Diese abstrakte Formulierung hatte ich bewusst gewählt, weil sie offen lässt (es gleichsam ihrem Unbewussten überlässt), wer oder was das annehmende Subjekt ist. Das könnten andere Menschen (oder auch ein Tier) sein, das könnte sie selbst sein, das könnte auch „das Leben“ oder Gott sein.

Sie lehnt sich entspannt zurück, schließt die Augen und wartet einen Moment auf eventuelle Bilder.


Ihre Reise beginnt in einer kleinen Grotte, von wo aus eine Art Serpentine nach unten führt. Es fühlt sich gut an, hier auf dem trockenen Lehmgrund nach unten zu gehen. Nachdem sie eine schwere hölzerne Tür geöffnet hat, kommt sie in eine herrliche Berglandschaft, läuft an grasenden Kühen entlang, mit denen sie vorsichtig Kontakt aufnimmt, bis sie zu einigen Häusern gelangt. Dort würde sie gern anklopfen, aber sie möchte nicht aufdringlich sein und geht weiter. Schließlich kommt sie auf einen (mediterranen) Marktplatz mit einem großen Brunnen. Die Menschen sitzen dort, essen und trinken. Es herrscht eine fröhliche Atmosphäre, jemand spielt Gitarre. Eine Frau kommt auf sie zu und lädt sie ein, die Menschen rücken auf, und es gibt Platz für sie. Es ist dort auch eine sehr alte Frau mit Falten, die sehr viel Wärme ausstrahlt. Auch ist dort ein kleiner (sympathischer) Junge, er ist etwas schmutzig und hat eine Rotznase. Von der Sprache, die dort gesprochen wird, kann sie die Worte nicht verstehen, aber die Bedeutung wohl.
Ich schlage nach einer Weile vor, nun Abschied zu nehmen (sie wäre dort am liebsten noch ganz, ganz lange geblieben…) Sie umarmt beide Frauen herzlich.

 
In diesen Bildern lässt sich eine Klimax feststellen, der ich in solchen Imaginationen öfter begegnet bin: a) Die Person ist allein in einer schönen Naturlandschaft, dort ist viel Platz, es gibt nichts, was bedrohlich ware; b) Sie begegnet (freundlichen) Tieren, mit Denen sie Kontakt aufnimmt; c) Es kommt zu einem Kontakt mit Menschen.
Frau D. wäre am liebsten noch stundenlang bei den Menschen auf dem Marktplatz sitzen geblieben – hier spürte sie offensichtlich eine Atmosphäre der Annahme, die sie in ihrem bewussten Leben vermisste. Ein sprechendes Beispiel hierfür ist der kleine Junge, der – wenngleich schmutzig und mit Rotznase – dort sein darf und der auch ihre Sympathie hat. Wahrscheinlich hat man sie selbst als Kind, wenn sie so aussah, ermahnt oder abgelehnt. Und sicher hat sie sich selbst in ihrem bewussten Leben kaum jemals erlauben können, diesem Jungen ähnlich zu sein.
Ich sagte zu ihr: Zu diesem Marktplatz können Sie immer zurückkehren. Das hat sie in den darauf folgenden Wochen noch mehrere Male getan und dort jeweils eine wohltuende Erfahrung von (Selbst-) Annahme gemacht.

Frau U.
Frau U. war eine 45jährige Biologin und kam zur Therapie, weil sie sich leer fühlte und zu wenig „Urvertrauen“ zu haben meinte. Sie hatte verschiedene psychosomatische Symptome. Ihr Vater war plötzlich verstorben, als sie elf war. Danach hatte ihre Mutter angefangen zu trinken. Religion hatte in ihrem Leben nie eine besondere Rolle gespielt. Auch mit ihr gehe ich nach einiger Zeit auf eine „Reise“ zum „Ort der Annahme“.

Ihre Reise beginnt (parterre) an einer hölzernen Tür, die sie nicht aufbekommt. Sie geht ein langes Stück entlang einer Mauer, bis sie einen Schacht entdeckt mit einer Treppe. Sie steigt hinab und gelangt in einen Kuppelsaal. Der Raum ist nach oben offen, an den Seiten stehen hohe Mauern, der Boden ist trocken, außer einem Grashalm gibt es dort nichts, was lebt. Sie geht zurück nach oben und läuft weiter an der Mauer entlang. Auf einmal wird der Pfad zu einem Tunnel, der in eine (katholische) Kirche führt. Es gibt dort bunte Fenster und viel Gold. Sie läuft herum. Auf einmal begegnet sie dort einem Mönch in einem schwarzen Gewand und mit einem langen weißen Bart. Er ist sehr freundlich und sagt, dass er sie schon erwartet habe. Er lädt sie ein, mitzukommen in die Sakristei (Krypta). Dort stehen zwei Stühle und ein Tisch. Er schenkt Tee ein und hört ihr zu. Sie kann alles erzählen, was sie auf dem Herzen hat und darf auch jederzeit wiederkommen. Beim Abschied umarmt er sie.

Als Frau U. ihre Augen wieder öffnete, war sie sehr berührt von dem, was sie gerade erlebt hatte. Es fühlte sich an, als ob sie endlich gefunden habe, was sie schon lange gesucht hatte. Besonders die Begegnung mit dem alten Mönch hatte ihr sehr gut getan und eine tiefe Sehnsucht erfüllt. Es handelte sich um eine Erfahrung des Angenommen-Seins, in ihrem Fall um ein Angenommen-Sein im Namen des Gottes (oder gar durch ihn), der in ihrem bewussten Leben nie eine besondere Rolle gespielt hatte.
Sicher war es kein Zufall, dass ihre „Reise“ zunächst an zwei „Orten“ entlang führt, an denen diese Erfahrung von Annahme nicht möglich war. Der erste Ort liegt nicht in der Tiefe, sondern „par terre“, in ihrer bewussten Welt. Es könnte sein, dass die Erfahrung dort im Prinzip wohl möglich wäre, aber es gelingt ihr nicht, die „Tür“ (den Zugang dazu) zu öffnen.
Der zweite Ort ist wohl „tiefer gelegen“, vielleicht lässt die Kuppel sogar an ein ehemaliges Kirchengebäude denken, aber es ist leer, es gibt dort (fast) kein Leben. Und sie weiß intuitiv: ich muss weitersuchen – bis sie in jener katholischen Kirche das Gesuchte findet.

Frau M.
Frau M. war eine allein stehende 35jährige Krankenschwester. Sie war einsam, hatte noch nie einen Freund gehabt, war nach ihren eigenen Worten depressiv und fühlte sich oft schuldig. Aus Gründen, die nicht mehr zu klären waren, hatte ihre Mutter sie als Kind abgelehnt und sie auf unmenschliche Weise erniedrigt.
Ab der vierten Sitzung unternahm ich mit ihr einige Imaginationsreisen. Als Ziel nannte ich „den Ort, wo ich ich selbst sein darf“. Sie lehnte sich zurück, schloss ihre Augen und öffnete sich für Bilder von innen.

Zu Anfang ist sie bei ihrem Elternhaus, aber dort kann sie nirgendwo einen Abstieg finden. Dann geht sie in einen Wald. Dort findet sie eine Kuhle, die ungefähr zwei Meter tief ist. Sie klettert hinein und gelangt so in einen sehr langen waagerechten Gang. Nach einer Weile sieht sie eine Tür. Sie klopft an, doch niemand ruft sie herein. Schließlich macht sie die Tür selbst auf und sieht, dass sich dahinter eine Grotte befindet. Ungefragt geht sie hinein. Dort sieht sie eine Frau von etwa 30, die der Madonna ähnlich sieht. Die steht dort sehr ungerührt und reagiert (fast) nicht auf sie. Vielleicht ist die Madonna wohl ein bisschen unbeholfen.
Sie geht weiter. Sie kriecht durch einen langen unterirdischen Gang, bis es auf einmal sehr hell wird (fast blendend). Sie ist in einem Wald, sie läuft dort ein Stück und kommt in eine Lichtung. Nachdem sie dort eine Weile im Gras gelegen hat, geht sie weiter. Ein Reh kommt zu ihr, sie streichelt es. Es kommen auch Hasen und Hirsche, sie sind alle sehr zahm und kennen sie. Sie streichelt sie und geht weiter. An der linken Seite des Pfades ist der Wald (beängstigend) dunkel, an der rechten Seite stehen Blumen und Sträucher in herrlicher Blüte. Sie nimmt eine rote Blume mit. Aber sie weiß: „Wenn ich mein Ziel erreichen will, muss ich in den dunklen Wald hinein.“


Ich schlage ihr vor, das bei einem nächsten Mal zu tun. Sie nimmt Abschied und kehrt zurück.
Sie öffnete die Augen und sagte sichtlich berührt: Das war schön! Sie hatte Erfahrungen gemacht (Gefühle, Wünsche, Träume), für die es in ihrem bewussten Leben kaum Raum gab. Für die Therapie war es entscheidend, dass sie diese unbewusste Welt erfahren und fühlen konnte, nicht dass sie kognitiv analysiert wurde.
Nur für den Leser gebe ich im Folgenden einen kurzen analysierenden Kommentar.
Die Suche von Frau M. nach dem „Ort, an dem ich ich selbst sein darf“ beginnt – sicher nicht zufällig – bei ihrem Elternhaus. Das ist der Ort, an dem – wenn alles gut ist – das Kind zum ersten Mal die grundlegende Erfahrung macht: „Ich darf sein, ich bin willkommen, ich werde angenommen.“ Doch in ihrem Fall war keineswegs „alles gut“, besonders ihre Mutter hatte immer wieder auf sehr verletzend Weise ihre Ablehnung gezeigt. Einen Zugang zu der Erfahrung des Angenommenseins wird sie also bei ihren Eltern nicht finden können, das hieße, am falschen Ort zu suchen.
So wie im Märchen der Weg von Hänsel und Gretel aus dem Elternhaus (mit der ablehnenden Mutter) hinaus und in den Wald (oft ein Symbol des Unbewussten) hinein führt, setzt auch Frau M. ihre Suche im Wald fort. Dort findet sie wohl einen Abstieg, wenngleich der nicht wirklich in die Tiefe führt. Ein langer waagerechter Gang führt sie zu der Grotte der Madonna. (Frau M. ist katholisch erzogen.) Was liegt für ein Kind, das von der eigenen Mutter abgelehnt wurde, näher, als Trost und Schutz zu suchen bei der „Mutter Gottes“, bei „Mutter Kirche“ oder auch bei einer „mütterlichen“ Seite Gottes. Aber niemand ruft sie dort herein, niemand heißt sie dort willkommen. Die Mutter Gottes zeigt sich genauso ungerührt wie einst ihre eigene Mutter. Wenn Frau M. auch versucht, das ein wenig zu entschuldigen (vermutlich auf dieselbe weise wie bei ihrer eigenen Mutter: „Sie ist vielleicht wohl ein bisschen unbeholfen“), erkennt sie doch: auch hier suche ich am falschen Ort.
Wenn der Ort des Angenommenseins weder bei ihren Eltern noch in dem dort gelernten Glauben gefunden werden kann, wird sie ihn in einer noch unbekannten, „ganz anderen“ „Welt“ suchen müssen. Es ist ein langer dunkler unterirdischer Gang, der dorthin führt, der an den Tunnel erinnert, den Menschen nach einer Nahtod-Erfahrung beschreiben. Am Ende dieses Gangs wird es sehr hell. Es scheint ein Ort zu sein, an dem sie sich sicher fühlt und an dem sie froh ist, dort zu sein. Sie legt sich ins Gras, und damit hat auch ihr ganzer Körper Kontakt mit dem (tragenden) Grund. Die Tiere sind zahm, kennen sie und lassen sich von ihr streicheln. Frau M., die – aufgrund ihrer Erfahrungen sehr verständlich – immer Angst gehabt hat vor dem Kontakt mit Menschen und die darum selbst sehr scheu geworden ist, erfährt hier nun einen sehr angenehmen Kontakt mit Tieren, die normalerweise als scheu bekannt sind. Durch die scheuen Tiere fühlt sich die scheue Frau M. verstanden und angenommen – und sie zeigt selbst liebevolle Gefühle gegenüber den scheuen Tieren, indem sie sie streichelt. (Auf der „Subjektstufe“ interpretiert, könnte dies bedeuten, dass sie ihre eigenen scheuen Anteile nicht mehr abwehrt, sondern auf liebevolle Weise mit ihnen in Kontakt ist und „Frieden“ mit ihnen hat.)
Ich will hier schon mitteilen, dass in späteren Imaginationen diese Tiere jedes Mal wieder dabei sind und sie begleiten (dadurch traut sie sich auch in den dunklen Wald hinein) und dass der liebevolle Kontakt zwischen ihr und dem Hirsch sich weiter entwickelt: Der Hirsch legt seinen Kopf auf ihre Schulter, und sie macht dasselbe bei ihm. Sie betont dabei, dass dies „nicht echt erotisch“ sei. (Aber eine angstfreie und darum sehr wichtige Vorstufe davon ist es sicher wohl.)
Die blühenden Sträucher und besonders auch die „rote Blume“ (Rose?), die sie mitnimmt, dürfen wohl verstanden werden als Andeutung dessen, dass in dieser „Welt“ Raum ist auch für ihre Sehnsucht nach Liebe. Aber bevor diese Sehnsucht erfüllt werden kann, wird sie sich den ängstigenden Dingen, die noch im dunklen Wald verborgen sind, stellen müssen.
Nachdem das geschehen war (es ging insbesondere um die Begegnung mit ihrer toten, aber noch nicht wirklich begrabenen Mutter), gingen wir etwa acht Wochen später auf die letzte Imaginationsreise:

Der Hirsch und der Hase erwarten sie schon. Der Hirsch will mit ihr zusammen am Wald entlang gehen, aber er will nicht in den Wald hinein. Sie nimmt den Hasen auf ihre Schulter und geht allein (mit ihm, ohne den Hirsch) in den dunklen Wald hinein. Nachdem sie eine Weile gegangen sind und eine Rast gemacht haben, sieht sie von weitem einen hellen Schein. Als sie näher herankommt, sieht sie dort einen Engel stehen. Zuerst möchte sie nicht dorthin. Er hat seine Arme ausgebreitet. Soviel Freundlichkeit fühlt sich für sie verdächtig an. Aber schließlich geht sie doch zu ihm hin. Er wird immer größer und sie selbst immer kleiner. Er nimmt sie auf den Arm und wiegt sie hin und her wie ein kleines Kind, danach darf sie auf seinem Knie sitzen. Schließlich nimmt er sie an die Hand und geht mit ihr bis zu dem Platz, an dem sie von ihm und von dem Hasen und dem Hirsch Abschied nimmt.

Nach dieser letzten Imagination war Frau M. selbst natürlich am meisten beeindruckt durch ihre Erfahrung auf dem Arm und dem Schoß des Engels. Was sie als Kind bei ihrer Mutter schmerzhaft hatte entbehren müssen, das hatte sie nun bei dem Engel bekommen.

Transzendenz erfahren?

Ich habe drei Erfahrungen mit (traumähnliche Bilder von) dem Ort der Annahme geschildert, von denen zwei eine deutlich religiöse Symbolik enthalten. Für diese drei Frauen ist das Subjekt der Annahme, nach der sie sich sehnen und die sie während der Imagination fühlen, nicht identisch mit ihnen selbst. Was sie während der Imagination erfahren, erleben sie nicht als Selbst-Annahme, sondern Angenommen-Werden, sei es durch andere Menschen (Frau D.), sei es durch Tiere (Frau M.), sei es durch Gott bzw. in seinem Namen (Frau U, Frau M.). Vor allem das Letztere wird in einem theologischen Diskurs unter anderem folgende zwei Fragen auslösen. Die erste Frage lautet: Geht es hier um Fiktion oder um Realität? Ist nicht die Annahme durch Gott bzw. in seinem Namen, die während einer Imagination erfahren wird, ausschließlich die Projektion einer Selbst-Annahme? Das hieße: jemand nimmt sich selbst an und projiziert das Subjekt dieser Annahme auf eine alte italienische Frau, auf einen Hasen oder Hirsch, auf einen Mönch oder einen Engel. Gibt es dann einen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Engel und dem Hirsch? Ist der Engel (bzw. seine Zuwendung) in anderer Weise eine externe Realität als der Hirsch (bzw. seine Zuwendung)? Und wenn das nicht der Fall ist, was nützt eine solche Imaginations-Erfahrung dann? Wenn Frankl (1979) vom „unbewussten Gott“ redet, meint er damit nicht, dass Gott selbst gleichsam in den Tiefen der menschlichen Seele gefunden werden könnte. Was innerhalb der menschlichen Seele gefunden werden kann, ist höchstens eine (unbewusste) Sehnsucht nach Gott oder auch ein (unbewusstes) Vertrauen auf Gott. Um mit den Worten von Apostelgeschichte 17 zu sprechen: vielleicht hat der Mensch tief in sich selbst wohl einen Altar für den unbekannten Gott, aber selbstverständlich nicht (einen „empirischen“ Zugang zu) Gott selbst.
Wer die Erfahrung von Frau M. auf den Arm des Engels „Fiktion und nicht Realität“ nennt, wird damit der Tatsache gerecht, dass die These, sie sei mit dem Engel „wirklich“ in Kontakt gewesen und mit dem Hirsch nur „in ihrer Phantasie“, schlechterdings unhaltbar ist. In dieser Hinsicht gibt es zwischen dem Hirsch und dem Engel keinen prinzipiellen Unterschied.
Wer hier von „Fiktion im Gegensatz zu Realität“ spricht, wird damit ferner der theologischen Ablehnung eines Supranaturalismus gerecht, der Gott letztendlich nicht als Gegenüber der Welt, sondern als einen Faktor neben anderen Faktoren in der Welt betrachtet (Tillich 1973, 11-16).
Aber er wird nicht der Tatsache gerecht, dass in der subjektiven Perspektive nicht nur die Alternative „Fiktion oder Realität“ besteht, sondern auch ein Zwischenraum, wie ihn Winnicott (1971) als „Übergangsraum“ beschrieben hat. Oder in den Begriffen von A. Lorenzer (1970): Wer Frau M.s Imagination des Engels nur für legitim hält, wenn es sich dabei um einen Kontakt mit einer externen Wirklichkeit handelt, der fasst den Engel (wie auch den Hirsch) nicht als Symbol auf, sondern als Klischee. Mit den Worten von Tillich (1961, 53-57): dann ist die Rede von einem „literalistischen Missverständnis“ des Symbols. Es kann sehr wohl sinnvoll sein, sich zu einem Symbol zu verhalten in dem Wissen, dass es ein Symbol ist. Tillich (ebenda) redet dann von einem „gebrochenen“ Symbol. Aber inwiefern kann dann die Rede sein von „Wahrheit“?
In der Imagination sieht und erfährt Frau M. sich als jemand, der „sein darf“ und der es wert ist, angenommen zu werden: nicht nur von einzelnen Individuen, die sie vielleicht mögen, sondern in einem tieferen, in einem „letzten“, „unbedingten“ Sinn: Sie imaginiert und fühlt hier eine Annahme, die ihre faktischen biographischen Erfahrungen übersteigt (transzendiert). Der Engel ist also ein Symbol für einen transzendenten Grund des Angenommenseins. Davon geht sie aus. Dies ist – erkenntnistheoretisch gesehen – als ein Postulat (der praktischen Vernunft, um mit Kant zu reden), auch wenn die postulierende Instanz hier nicht „gefüllt“ werden kann durch die pure ratio, sondern vielmehr durch das „Herz“, entsprechend dem dictum von Pascal: “Le cœur a ses raisons, que la raison ne connaît point.”              

Das macht die zweite Frage um so dringender: Wie verhält sich ein solches „Postulat des Herzens“ (und seine Fühlbarkeit) zum verbum externum?
Ist Rechtfertigung theologisch gesehen nicht etwas, das von außen dem Menschen verkündigt wird und das er dann annimmt (und erst danach vielleicht auch fühlt und in Bilder übersetzt)? Und heißt Rechtfertigung nicht, dass das verkündigte Wort zum Sein des Menschen etwas hinzufügt, indem es ihn vor Gott gerecht spricht? Was wird durch die Verkündigung noch hinzugefügt außer einem neuen Label, wenn Annahme durch Gott auch unabhängig von der Verkündigung mittels einer Imagination erfahren werden kann?
Hier haben wir zu tun mit einer Spannung zwischen einem Stück überlieferter Glaubenswahrheit und einem Stück empirischer Wirklichkeit. Es kann nicht die Aufgabe des praktischen Theologen sein, diese Spannung mittels einer systematisch-theologischen Antwort (etwa im Gefolge von K. Rahner) aufzulösen. Vielmehr ist es die Aufgabe des (bipolaren) praktischen Theologen, die Spannung auszuhalten und beide Seiten mit einander in en (wechselseitig konstruktiv-kritisches) Gespräch zu bringen. Das kann in diesem Fall heißen: Von dem Stück empirischer Wirklichkeit aus wird dem Vertreter der Glaubenswahrheit die kritische Frage vorgelegt, ob er in ausreichendem Maße folgende beiden Punkte berücksichtigt:

  • Dass ein Mensch von der Rechtfertigungsbotschaft getroffen wird, davon kann erst die Rede sein, wenn er sich angenommen fühlt.

  • Eine Botschaft, die einen Menschen auch in seinem Gefühl treffen will, kommt nicht in einen luftleeren Raum hinein. Die Botschaft von der Annahme durch Gott knüpft faktisch auf die eine oder andere Weise an die (positiven oder negativen) Erfahrungen an, die der Hörer schon früher mit „Annahme“ gemacht hat.


Von der überlieferten Glaubenswahrheit aus werden dem Vertreter der Praxis folgende Fragen vorgelegt:

  • Haben Menschen wie Frau M. und Frau U. jemals im Unterricht oder in der Kirche die Botschaft von der Rechtfertigung so gehört, dass sie dadurch getroffen und berührt wurden?

  • Wie kann das in Zukunft aussehen? Wie kann gegenüber Menschen wie Frau M. und Frau U. die Botschaft von der Rechtfertigung auf eine Weise erklärt und verkündigt werden, die sich anschließt an ihre Erfahrungen in den Imaginationen?

Es ist die Aufgabe des praktischen Theologen, den Dialog zwischen dem Vertreter der Glaubenswahrheit und dem Vertreter der Empirie / Praxis nicht zu beenden, sondern gerade in Gang zu halten. Das ist freilich kein Spiel zum Zeitvertreib, sondern sein spezifischer Beitrag zu dem Ziel, das Evert Jonker (1996, 6) wie folgt in Worte gefasst hat: „dass Menschen vertraut werden mit Erfahrungen der Transzendenz und der Tiefe des Daseins, dass Menschen ermutigt werden, zu glauben an Gottes Reich, dass sie sich zuhause fühlen in Riten, Symbolen und dem, was der Sprache des Glaubens eigentümlich ist.“

Bibliografie

  • Böschemeyer, U., Dein Unbewußtes weiß mehr, als du denkst. Imagination als Weg zum Sinn, Freiburg 1996.
  • Böschemeyer, U., Unsere Tiefe ist hell. Wertimagination – ein Schlüssel zur inneren Welt, München 2005.
  • Böschemeyer, U., Gottesleuchten. Begegnungen mit dem unbewussten Gott in unserer Seele, München 2007.
  • Frankl, V.E., Der unbewußte Gott, München 1979.
  • Heitink, G., “De theologie van de Klinische Pastorale Vorming of: Wybe Zijlstra als         pastoraal-theoloog”, in: G. Heitink e.a., Ontginningswerk. Bijdragen voor dr. Wybe     Zijlstra, Kampen 1985, 112-118.
  • Jonker, E.R., “Thuis raken in geloof. Ten geleide”, in: Praktische theologie 23/4, 1996, 1-8.
  • Köhler, W., Dogmengeschichte II, Zürich 1951.
  • Lorenzer, A., “Symbol, Sprachverwirrung und Verstehen”, in: Psyche 12, 1970, 895vv.
  • Stollberg, D., Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie und Praxis, Gütersloh 1978.
  • Tacke, H., Glaubenshilfe als Lebenshilfe. Probleme und Chancen heutigen Seelsorge,         Neukirchen 1979.
  • Tillich, P., Wesen und Wandel des Glaubens, Berlin 1961.
  • Tillich,P., Systematische Theologie Bd. III, Stuttgart 1966.
  • Tillich, P., Systematische Theologie Bd. II, Stuttgart 1973.
  • Winnicott, D.W., Playing and Reality, London 1971.