Logotherapie in der Postmoderne

Wozu der existenzanalytische und der postmoderne Geist
einander herausfordern können.

Einleitung

Verehrte Damen und Herren,

„Logotherapie in der Postmoderne“ – dieser Titel benennt eine Sache und einen Ort. „Logotherapie“ ist die Sache. „Postmoderne“ bezeichnet einen Aspekt des Ortes, an dem im 21. Jahrhundert Logotherapie praktiziert wird. Die Sache, die Logotherapie, haben wir frei gewählt, haben sie irgendwann zu unserer Sache gemacht. Im Prinzip hätte jeder von uns auch stattdessen etwas anderes wählen können.
Für den Ort, für die Postmoderne, gilt das nicht unbedingt. Keiner von uns ist gefragt worden, ob er in einer vom postmodernen Geist durchwehten Welt leben und arbeiten möchte oder doch lieber woanders. Vielleicht hätte in dem Fall mancher von uns durchaus gesagt: lieber woanders, nämlich in einer Welt der verbindlichen Werte und der allgemein anerkannten Wahrheit. Aber es ist keiner von uns gefragt worden. Für die Sache, die wir gewählt haben, ist der Ort uns schicksalhaft gegeben. Und damit: uns aufgegeben.
Ich darf also wohl sagen: für Logotherapeuten im 21. Jahrhundert gehört es zum „Aufgabencharakter des Lebens“, sich durch den postmodernen Geist herausfordern zu lassen und ihm selbst eine Herausforderung zu sein.

Teil I: Was ist postmodern?

Doch was ist eigentlich näher gemeint mit dem Begriff „postmodern“?
Ich meine damit vor allem zwei Entwicklungen, die natürlich mit einander zusammenhängen und einander bedingen. Ich werde sie kurz skizzieren. Es sind erstens der Verdacht gegen die großen Erzählungen, zweitens die Individualisierung und damit zusammenhängend der Zwang zur Erfindung des eigenen Lebens.

Zunächst erstens: der Verdacht gegen die großen Erzählungen.
Der Ausdruck verdankt sich dem französischen Philosophen Jean-François Lyotard2. Er veröffentlichte 1979 sein programmatisches Buch, das inzwischen als Klassiker der Postmoderne gilt, „La condition postmoderne“; der Titel der 1986 erschienenen deutschen Übersetzung lautet: „Das postmoderne Wissen“.
Unter einer „großen Erzählung“ oder „Meta-Erzählung“ versteht Lyotard ein Theorie-Gebäude, das den Anspruch erhebt, uns die Welt „gültig und umfassend zu erklären und von einer solchen vereinheitlichenden Erklärung her das menschliche Handeln zu verpflichten.“3  Das kann für ein postmodernes Empfinden weder die Aufklärung mehr leisten, noch Wissenschaft und Technik, noch der  Marxismus oder das Christentum. In der Religionspädagogik reden wir von einer Patchwork-Religiosität junger Menschen: von einem weltanschaulichen Flickenteppich, dessen Flicken aus verschiedenen Traditionen und Systemen zusammengesucht sind – im Gegensatz zu dem fertig gekauften oder geerbten einfarbigen Teppich, mit dem man das Glaubenssystem vergleichen kann, das ihre Eltern noch mehr oder weniger als Ganzes übernommen oder abgelehnt haben. Vor ein paar Jahren sagte eine Studentin der Religionspädagogik4: „Wieso, ich stelle mir das so vor, dass der christliche Gott mit Allah und Buddha in einer Art Wohngemeinschaft lebt.“ Eine Wahrheit auf die diese drei zu transzendieren wären, sei es einen „Gott über Gott“ im Sinne von Tillich oder einen „Über-Sinn“ im Sinne von Frankl braucht sie nicht. Auch ein Leben nach dem Tod kann sie sich mühelos allen Ernstes so vorstellen, dass der Christ in den Himmel kommt, dass der Buddhist nach einer Reihe von Wiedergeburten ins Nirvana eingeht – und dass der Atheist einfach tot bleibt. Vielleicht etwas unbedacht wandte ich ein, dass die Logik aber doch gebiete, dass es nach dem Tod nur z.B. entweder den Himmel oder die Reinkarnation oder das Nichts gäbe. Das Auffällige und zugleich Bezeichnende war für mich, dass ihr dieser Einwand überhaupt nicht plausibel war. Hier war mein modernes Argumentieren auf ihr postmodernes Verstehen oder Nicht-Verstehen gestoßen. Die eine gemeinsame alles überkuppelnde Wahrheit ist für sie längst eingestürzt. Und das erlebt sie nicht einmal als etwas Schlimmes oder zu Betrauerndes.  Im Gegenteil, die Kuppel versperren nicht mehr den Blick zum Himmel, und auch die Trümmer haben inzwischen schon ihre eigene ästhetische Faszination.

Zweitens: die Individualisierung der Lebenswelten

Das Individuum hat heute in einem Maß die Freiheit, das berufliche wie das private Leben selbst zu gestalten, wie das in früheren Generationen schier undenkbar war. Wenn ich nur fünfzig Jahre früher geboren wäre, dann hätte mein beruflicher Weg von meiner Geburt an so gut wie festgelegen: ich hätte den elterlichen Bauernhof in Ostfriesland, auf dem ich geboren bin, übernommen und dort – bis ins hohe Alter – mein Leben verbracht. Die Frage „was willst du werden?“, hätte sich nie gestellt. Und damit selbstverständlich auch nicht die Frage: Gymnasium ja oder nein? Studium ja oder nein? Wenn ja, was und wo? Eine Fülle von eigenen Entscheidungen, die ich alle selbst treffen durfte – und freilich auch musste – hätte die Gemeinschaft (nach den Vorgaben der Tradition) mir abgenommen bzw. vorenthalten.
Eine für die Rolle der Bäuerin taugliche Frau zu heiraten, mit ihr Kinder zu bekommen und bis zum Tod mit ihr zusammen zu bleiben, wäre genau so selbstverständlich gewesen wie dass ich der evangelisch-lutherischen Kirche, in der ich als Kind getauft bin, bis an mein Lebensende treu bleibe. Die Frage, aus welchen Gründen ich davon überzeugt bin, oder ob ich nicht vielleicht doch die Lehre der Reformierten oder der Katholiken überzeugender finde, hätte sich nicht wirklich gestellt. Ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, die heute offen stehen: aus der Kirche auszutreten, Buddhist zu werden, statt zu heiraten in einer Folge von Lebensabschnittspartnerschaften zu leben, mit Frauen oder auch Männern, mit Kindern oder auch ohne, sesshaft zu sein oder als Vagabund zu leben, einen Beruf auszuüben oder auch sukzessive mehrere verschiedene und so weiter.
Es ist deutlich: es steht heute ein Vielfaches der Optionen zur Verfügung. Das bedeutet auf der einen Seite eine Vervielfältigung der Wahlfreiheit, auf der anderen Seite zugleich eine Vervielfältigung der Verantwortung für die jeweils zu treffende Wahl. 
Je weniger die Richtungsvorgaben, desto größer die Freiheit, sich für den eigenen Weg zu entscheiden, desto notwendiger aber auch die Entscheidungskompetenz und das Vermögen, sich zu orientieren. Darauf werde ich noch zurückkommen.



Teil II:

Plädoyer für eine vorurteilsfreie Haltung gegenüber der Postmoderne


Doch zunächst möchte ich – damit komme ich zum zweiten Teil dieses Vortrags – die Frage stellen:
Welche Haltung nehmen wir als Logotherapeuten ein zur Postmoderne? Und ich möchte darauf selbst antworten mit einem Plädoyer für eine möglichst offene und angstfreie Haltung, so vorurteilsfrei wie möglich.
Mit einem Blick, der so weit wie möglich ungetrübt ist, der nicht unbemerkt eine Folie über das Bild legt, das er betrachtet, sodass er dann nicht mehr unterscheiden kann: was sehe ich wirklich auf dem Bild – und was sehe ich auf meiner eigenen Folie? Ich denke insbesondere an zwei Folien, die es zu vermeiden oder ggf. zu erkennen und zu entfernen gilt: den Fortschrittsoptimismus und den Fortschrittspessimismus.

a) Fortschritts- bzw. Entwicklungs-Optimismus.
Der Fortschrittsoptimismus, also die Auffassung, die Entwicklung des Menschen gehe immer weiter aufwärts, scheint – wenn ich die Geschichte recht deute – jeweils ein recht kurzlebiges Phänomen zu sein. Als einziges Beispiel nenne ich kurz den so genannten „real existierenden Sozialismus“. Hatte der etwa in Ostdeutschland in den Anfangsjahren noch lebendige Träume und Visionen, so hat es keine Generation gedauert, bis die Träume vom sozialistischen Menschen im Grunde abgestorben waren und nur noch künstlich hochgehalten wurden.

b) Fortschritts- bzw. Entwicklungs-Pessimismus
Der Fortschrittspessimismus dagegen scheint mir sehr viel zählebiger zu sein: die Vorstellung, dass die Entwicklung des Menschen immer weiter abwärts gehe. Besonders in moralischer Hinsicht wird gelegentlich unreflektiert und ungeprüft davon ausgegangen, dass die Geschichte des Menschen eine Geschichte des Werteverfalls sei.
Dass ältere Menschen mit Bedauern oder auch mit Verunsicherung feststellen, dass manche Werte, die ihnen selbst von Kind an viel bedeutet haben, der Generation ihrer Enkel deutlich weniger bedeuten, lässt sich immer wieder beobachten – und das nicht erst in unserer Zeit. Das ist auch nur allzu verständlich, kann es doch eine Kränkung bedeuten, wenn Kindern oder Enkeln Werte, die einem selbst geradezu heilig sind, eher gleichgültig sind. Das erklärt eine bestimmte Sichtweise einer jeweils älteren Generation.
Aber bedeutet das auch, dass tatsächlich objektiv die Werte immer mehr verfallen? Ich stelle mir einmal vor, es gäbe einen allgemeinen Werte-Index, so ähnlich wie es auf dem Aktienmarkt den DAX gibt. Wenn ich weiß, wie hoch der DAX steht, bekomme ich ein Bild davon, ob es sich z.B. lohnt, Aktien zu kaufen oder zu verkaufen. Auch wenn es natürlich sein kann, dass die eine oder andere einzelne Aktie sehr viel höher oder auch sehr viel niedriger stehen kann, als der DAX das vermuten lässt. Wenn es also einen solchen Werte-Index gäbe: der würde natürlich schwanken, ähnlich wie der DAX auch. Aber wäre er wirklich seit Jahren oder Jahrhunderten oder Jahrtausenden ständig im Fallen begriffen? Waren die Werte, an denen sich vor fünfzig oder hundert Jahren die Menschen orientierten und die sie realisierten, wirklich höher als jetzt? Dass es bei einzelnen Werten Veränderungen gegeben hat, steht außer Frage. Aber war das Gesamt der realisierten Werte damals wirklich höher? Und sollte es wirklich vor tausend oder gar dreitausend Jahren noch höher gewesen sein? Wird die Menschheit immer unmoralischer?
Wenn ich die Geschichte der letzten Jahrzehnte betrachte, die ich selbst miterlebt habe, - und auch wenn ich auf die Geschichte der letzten Jahrtausende blicke, finde ich das gerade nicht bestätigt.
Ich nenne zunächst kurz ein Beispiel, das etwa 3000 Jahre zurückliegt. Damals regierte der König Salomo, dessen Weisheit in der Bibel gerühmt wird. Die Weisheit will ich ihm auch nicht absprechen, aber ich möchte wohl ein historisches Detail nennen, das in Kinderbibeln zumeist unterschlagen wird. Sobald Salomo den Thron bestiegen hatte, bestand nach dem Tod seines Vaters David seine erste Maßnahme darin, zur Sicherung seiner Macht alle eventuellen Konkurrenten auszuschalten. Darum ließ er seinen Bruder Adonia sowie auch zwei Heerführer seines Vaters kurzerhand ermorden.1 – Wenn ich damit die Regierenden in der heutigen westlichen Welt vergleiche, kann ich wahrlich nicht sagen, dass die moralischen Standards, die ihrem Handeln zugrunde liegen, niedriger wären als die zur Zeit Salomos.
Jetzt ein kleines Beispiel aus der Geschichte der letzten Jahrzehnte. Wenn ich die Studenten, mit denen ich arbeite, vergleiche mit den Studenten vor gut 30 Jahren, zu denen ich selbst damals gehörte, dann fallen mir immer wieder zwei Unterschiede auf, die mich manchmal beschämen. Da ist zum einen eine Kultur der Achtsamkeit und des freundlichen Umgangs mit einander. Verglichen damit war seinerzeit unter uns das Klima kühler, härter und vor allem rechthaberischer. Und zum anderen fällt mir auf, mit welcher Selbstverständlichkeit sich jüngere Menschen orientieren an Werten, die man bündeln könnte mit dem Stichwort „die Schöpfung bewahren“. Verglichen damit war ich selbst wie viele meiner Mitstudenten in den 70er Jahren aus heutiger Sicht für ökologische Werte erschreckend blind.
Wenn der Index der moralischen Werte zwar Schwankungen kennt und auch Verschiebungen und Veränderungen bei einzelnen Werten, wenn aber das Gesamtniveau durch die Jahrhunderte und Jahrtausende hin mehr oder weniger konstant geblieben ist, halte ich das für einen ausreichenden Grund, davon auszugehen und bis zum Erweis des Gegenteils daran festzuhalten, dass das nicht ausgerechnet bei der heute nachrückenden Generation anders sein wird.
Auf dieser Basis kann Logotherapie der Postmoderne vorurteilsfrei begegnen. Nicht als der moralisch Überlegene, der dem moralisch Unterlegenen den rechten Weg weisen möchte. Sondern im sokratischen Dialog mit einander.

Geschichte vom sinkenden Petrus

An dieser Stelle möchte ich nun gern eine sehr alte Geschichte kurz beleuchten, die von einer starken Symbolkraft ist. Sie steht im Neuen Testament2. Gleichwohl geht es mir hier nicht um eine theologische Interpretation, sondern um die Frage, auf welche Weise Menschen damals mit der Bedrohung ihrer gemeinsamen Identität durch allerlei Turbulenzen auf dem Markt der Weltanschauungen umgegangen sind. Es könnte ja sein, dass da auch zur Identität der Logotherapie im 21. Jahrhundert einig Parallelen zu ziehen sind.
In der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts lebten die jungen Christengemeinden in einer multireligiösen und multikulturellen Welt, die in mancher Hinsicht durchaus mit der heutigen Welt durchaus zu vergleichen ist. Die zahlenmäßig noch sehr kleine Schar der Christen musste sich behaupten gegen verschiedene Richtungen des Judentums, gegen den römischen Kaiserkult und gegen verschiedene religiöse Strömungen und Praktiken des hellenistisch-römischen Kulturkreises. Und sie musste auch die eigenen Grundlagen und das eigene Selbstverständnis neu bestimmen. Hatte Jesus selbst das unmittelbar bevorstehende Hereinbrechen der Gottesherrschaft erwartet und verkündet, hatten die ersten Christen selbst mit der baldigen Wiederkunft Jesu gerechnet, so mussten sie in zunehmendem Maße die Enttäuschung verarbeiten, dass das nicht eingetreten war. Man musste sich auf eine Existenz in der Welt einrichten.
In diesem Kontext erzählte der Evangelist Matthäus eine Geschichte, die mit folgendem Bild beginnt: Die 12 Jünger, die Repräsentanten der Christen, sitzen alle zusammen in einem Boot. Das Boot ist ein altes Symbol für die Gemeinde der Christen, für die Kirche. Es verwundert nicht, dass es in dieser Geschichte Nacht ist. Das macht es schwer, sich genau zu orientieren. Und es kommt ein Sturm auf. Hohe Wellen schlagen gegen das Boot. Es wird fast unmöglich, den Kurs zu halten. Es ist, als ob das Boot zum Spielball der Wellen geworden wäre. Die Männer haben Angst, dass das Boot kentern und untergehen könnte. Und möglicherweise gar, dass sie das Ganze nicht überleben.
Die Zuhörer des Matthäus erkannten in dieser Geschichte ihre eigene Situation. Wie sollten sie ihre Identität bewahren? Vielleicht dadurch, dass sie sich an das Überlieferte klammerten und sich gegen die von außen kommenden Turbulenzen so weit wie möglich abschirmten?
Sie werden gespannt darauf gewartet haben, an welcher Stelle Jesus, der Grund und das Symbol ihrer christlichen Identität, in dieses Bild hineingemalt werden würde. Und sie werden sehr erstaunt gewesen sein, als sie hörten: Jesus ist hier nicht im Boot bei den Jüngern, nicht am Ort der relativen Sicherheit. Sondern er betritt die Bildfläche auf dem Wasser. Auf den Wellen.
Und noch mehr erstaunt werden sie darüber gewesen sein, wohin Jesus den Petrus ruft. Dass er nämlich nicht sagt, was ihm die meisten wohl geraten hätten: Bleib auf dem Boot, halt dich fest am Mast, dort hast du Balken und Bretter unter deinen Füßen, dort seid ihr vergleichsweise sicher. Sondern stattdessen ruft ihn Jesus, aus dem Boot hinauszugehen, seinen Fuß auf das Wasser zu setzen, das keine Balken hat, hinauszugehen auf das Meer, sich gleichsam auf die Herausforderung der Turbulenzen von Wasser und Wind einzulassen, ihnen zu trotzen – und auch, als eine besonders hohe Welle seine ängstliche Aufmerksamkeit auf sich zieht und dadurch (wie Logotherapeuten wissen) wahrscheinlich noch viel größer wurde als sie eh schon war, ihr ein Stückweit zu erliegen und einzusinken. Doch auch als das geschieht, nimmt in dieser Geschichte Jesus seinen Ruf nicht zurück, sagt nicht: „Du hättest doch lieber im Boot bleiben sollen“, sondern reicht ihm die Hand und zieht ihn heraus.
Übrigens: wenn der große katholische Theologe Karl Rahner plädiert hat für einen „Tutiorismus des Wagnisses“3, dann hat er damit ziemlich genau dieses gemeint: Wenn Kirche ihre eigene Identität sichern will, muss sie paradoxerweise den Ort der relativen Sicherheit gerade verlassen und das Wagnis eingehen, sich einzulassen auf die turbulenten Stürme der Zeit.

Vielleicht gilt ja für uns als Logotherapeuten ein Ähnliches.


Teil III:

Logotherapie und Postmoderne im notwendigen Dialog


Warum nun ist es wichtig, dass es in einer postmodernen Landschaft die logotherapeutische Sache weiterhin gibt? Was würde vor allem fehlen, wenn es uns als Logotherapeuten dort nicht mehr gäbe?

Wenn ich einmal versuche, mir das vorzustellen, gilt meine Sorge zwar auch, aber nicht in erster Linie den Klientinnen und Klienten, den Patientinnen und Patienten, die jetzt durch logotherapeutische Beratung oder Behandlung Hilfe erfahren. Es gibt Gott sei Dank ein sehr breites Angebot an unterschiedlichen Therapien, an Beratung und an Seelsorge. Und ich hätte die Hoffnung, dass die Hilfesuchenden irgendwo dort etwas Gleichwertiges finden würden.
Was aber vor allem fehlen würde, weil es dafür unter anderer Flagge und unter anderem Namen kaum etwas Entsprechendes gibt, ist die logotherapeutische Stimme im interdisziplinären Gespräch über den Menschen. Wo Mediziner und Psychologen, Philosophen und Theologen, Pädagogen und Soziologen arbeiten an der Frage, wie der Mensch angemessen zu verstehen ist und was die Bedingungen sind für die Möglichkeit gelingenden menschlichen Lebens, da vor allem scheint mir der logotherapeutische Gesprächsbeitrag unverzichtbar zu sein. Denn wo sonst begegnet in der Klarheit eine ausdrücklich therapeutische Perspektive, die den Menschen zentral als sinnorientiertes und wertebezogenes Subjekt betrachtet? Eine Perspektive, die darum auch das Fragen des Menschen nach Wahrheit wichtig nimmt, ohne allerdings ihm die Beantwortung der Wahrheitsfrage abzunehmen, wie das z.B. in manchen Sekten geschieht.

Eine Voraussetzung dafür, dass die logotherapeutische Stimme gehört werden kann, ist unsere Erkennbarkeit in der therapeutischen und anthropologischen Landschaft. Um beim Bild der Landschaft zu bleiben, es muss Hinweisschilder und dann ein Ortsschild geben, dass jeder erkennt: Hier betrete ich jetzt die „Logotherapie-Stadt“. Diese Stadt kann sich sicher alle Gastfreundschaft leisten. Sie braucht keine Stadtmauer, keinen anti-nichtlogotherapeutischen Schutzwall. Aber sie braucht das Ortsschild, an dem sie für jeden zu erkennen ist. Und damit den Platz auf der Landkarte, der sich definieren und finden lässt.

Nun könnte jemand fragen: Wie passt denn eigentlich Logotherapie-Stadt in die postmoderne Landschaft? Ist sie dort vor allem ein Fremdkörper, der sich von den umliegenden Orten krass unterscheidet? Oder gibt es vor allem Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen?
Es gibt in der Tat neben deutlichen Unterschieden, zu denen ich noch kommen werde, eine Reihe von Affinitäten. Um es noch einmal im Bild zu sagen: in Logotherapie-Stadt und in einigen Orten der Postmoderne werden teilweise ähnliche Dialekte gesprochen, was das gegenseitige Verstehen erleichtern kann.
Der New Yorker Professor für Psychologie Paul C.Vitz4 hat drei Merkmale der Psychologie Viktor Frankls beschrieben, von denen er meint: die könne man im Grunde als postmodern ansehen.

Er sagt erstens: Wenn verschiedene reduktionistische Menschenbilder ein Kennzeichen der Moderne sind, dann ziehen Frankl und die Postmoderne insofern am selben Strang, als sie das überwinden möchten. So gesehen hat Frankls Nachdruck auf das Streben nach einem höheren Sinn möglicherweise in der Postmoderne eine größere Chance, verstanden und angenommen zu werden, als in der Moderne.

Zweitens sagt Vitz: Wenn verschiedene deterministische Menschenbilder ein Kennzeichen der Moderne sind, dann ziehen Frankl und die Postmoderne insofern am selben Strang, als sie das überwinden möchten.  So gesehen hat Frankls Betonung der Entscheidungsfreiheit des Menschen möglicherweise in der Postmoderne eine größere Chance, verstanden und angenommen zu werden, als in der Moderne.

Und drittens: Wenn das Autonomiestreben und damit notgedrungen eine gewisse anti-soziale Haltung die Moderne kennzeichnet, dann ziehen auch hier Frankl und die Postmoderne insofern am selben Strang, als sie das überwinden möchten. So könnte also auch Frankls Betonung der Verantwortung oder (um mit Buber zu reden:) des „Ich und Du“ statt des „Ich“ in der Postmoderne eine größere Chance haben, verstanden und angenommen zu werden, als in der Moderne.

Ich selbst möchte gern noch einen vierten Punkt ausdrücklich hinzufügen, auch wenn der zum Teil schon mit dem Stichwort „Reduktionistische Menschenbilder“ angeklungen ist. Ich meine speziell die Psychologismuskritik Frankls und den dadurch zu schützenden Respekt vor dem, was echt ist. Psychologismus beruht – wie alle anderen „Ismen“ – darauf, dass eine bestimmte Perspektive (hier eine psychologische) absolut gesetzt wird und alle anderen Perspektiven als relativ ihr untergeordnet werden.
Da der postmoderne Geist die starke Tendenz hat, alle möglichen Perspektiven für relativ (aber als solche für durchaus berechtigt) zu halten und keine für absolut, haben auch hier ein logotherapeutisches und ein postmodernes Interesse ein ähnliches Gefälle.

Das heißt freilich nicht, dass ich damit rechne, dass Max Schelers Opus „Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik“5 eine neue Welle der Lektüre und der Rezeption erleben wird. Im Gegenteil, das würde mich sehr wundern. Aber einem logotherapeutischen Interesse geht es ja auch nicht um Scheler als solchen, sondern um die Funktion, die dessen Materiale Wertethik für den jungen Frankl und seine Psychologismuskritik hatte. Eine ähnliche Funktion erwarte ich für heutige Leser, und zwar auch für diejenigen, die keine philosophischen Bücher lesen, eher beispielsweise von dem in logotherapeutischen Kreisen oft zitierten Gedicht von Erich Fried6:           


Was es ist.
Es ist Unsinn sagt die Vernunft
Es ist was es ist sagt die Liebe.

Es ist Unglück sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst
Es ist aussichtslos sagt die Einsicht
Es ist was es ist sagt die Liebe

Es ist lächerlich sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich sagt die Erfahrung
Es ist was es ist sagt die Liebe.


Doch nun zu einem Thema, bei dem das Verhältnis zwischen Logotherapie und Postmoderne nicht dadurch zu umschreiben ist, dass die beiden ungefähr in die gleiche oder eine ähnliche Richtung gehen. Sondern bei dem sie sich etwa zu einander verhalten wie Angebot und Nachfrage. Ich hatte schon angedeutet, dass die größere Wahlfreiheit des postmodernen Menschen, die ja zugleich eine Wahlverpflichtung ist, auch eine größere Entscheidungskompetenz und ein größeres Orientierungsvermögen erfordert als das in früheren Phasen nötig war.
Also: Wie findet der postmoderne Mensch seine Orientierung? Wie und wo findet er die Kriterien, die er braucht, um die vielen Entscheidungen, die ihm in der Gestaltung seines Lebens abverlangt werden, treffen zu können?
Einer absoluten äußeren Autorität, z.B. einem Guru, bedingungslos zu folgen, ist dem postmodernen Menschen – ich möchte sagen: Gott sei Dank – nicht mehr (oder doch nur noch sehr schwer) möglich. Aber sozusagen ein demokratisches Abstimmungs-Organ in seinem Inneren oder in seinem Umfeld, das die Funktion, die einst die Autoritätsperson innehatte, übernehmen könnte, ist noch nicht recht entwickelt. Und so sehe ich auf der einen Seite postmoderne Menschen mit einem Bedarf an Orientierungshilfe und Entscheidungskompetenz. Und auf der anderen Seite sehe ich gerade die Logotherapeuten, die dafür die geeigneten Werkzeuge im Haus haben. Darum hoffe ich, dass diese beiden Seiten zu einander finden.
Der Logotherapeut hat gelernt, die Werte, um die es in der Entscheidungssituation geht, im sokratischen Gespräch zu erfragen, sie zu benennen, vielleicht auch: mit imaginativen Verfahren sie gleichsam ins Bild zu setzen und dort zu erfühlen und zu erleben. Und das Ende wird sehr wahrscheinlich sein, dass dem Orientierung-Suchenden deutlich ist: „Hier und jetzt wiegt dieser Wert für mich deutlich schwerer als jener“.

An dieser Stelle kommt es dann freilich – zumindest implizit – doch zu einer Konfrontation zwischen einer logotherapeutischen und einer postmodernen Grundannahme. Anders gesagt: hier wird es zu einer Kritik eines Aspektes des postmodernen Geistes durch den existenzanalytischen Geist kommen.
Denn für Existenzanalyse und Logotherapie ist die Vorstellung, dass alle Werte zu jeder Zeit gleich wertvoll sind und gleich schwer wiegen, dass alle Wahrheiten gleich wahr und alle Wege gleich gültig (und darum letztlich gleichgültig) sein sollen, nicht akzeptabel. Wenn der postmoderne Geist den existenzanalytischen Geist irgendwo zum Widerspruch herausfordert, dann sicher hier.
Wenn zwanzig Möglichkeiten, die es gibt, es alle in gleichem Maße wert sind, gewählt zu werden, dann weiß niemand mehr, warum er auch nur eine davon wählen sollte7. Das heißt mit anderen Worten: wo keine Wert-Unterschiede mehr wahrgenommen werden, verschwindet auch der Sinn aus dem Blickfeld.
Den existenzanalytisch-logotherapeutischen Widerspruch hiergegen sehe ich nicht primär im Verbreiten einer philosophischen Lehre. Sondern darin, dass wir das Problem im Blick haben und dass wir im sokratischen Gespräch das Unsere dazu tun, dass die Wert-Unterschiede und das daraus sich ergebende Sinn-Gefälle entdeckt und erfahren werden können. Und dass damit zugleich erfahren werden kann, dass es sinnvoll bleibt, nach Wahrheit zu fragen und zu suchen und um die Frage nach der Wahrheit zu streiten.

Das heißt freilich nicht, dass wir als Logotherapeuten auftreten mit dem Anspruch, dass wir (oder gar: wir allein) die einzige Wahrheit gefunden hätten und dass wir deshalb berufen seien, sie weiterzugeben und zu lehren. Dass für ein postmodernes Empfinden und für eine postmoderne Perspektive die große alles überdachende Kuppel der einen absoluten Wahrheit zerbrochen und eingestürzt ist, das braucht den Logotherapeuten nicht zu verunsichern, zu einem Teil wird es sogar seine Zustimmung finden. Ich zitiere Viktor Frankl: „Solange uns eine absolute Wahrheit nicht zugänglich ist, müssen wir uns damit begnügen, dass die relativen Wahrheiten einander korrigieren.“8

Als Theologe bin ich vertraut mit dem folgenden Gedanken: Der Anspruch auf absolute Wahrheit kommt allein Gott zu und keiner Instanz sonst. Eine menschliche Erkenntnis oder ein menschliches Konstrukt für absolut zu halten, das hieße, es zu vergöttern, es wäre sozusagen Abgötterei auf dem Gebiet des Erkennens. Ich denke aber zugleich, dass dieser Gedanke in seiner negativen Pointe (um die es mir hier vor allem geht) nicht nur ein theologischer ist. Ich denke, dass unabhängig vom religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis Theisten wie Atheisten sich darauf verständigen können, dass der Platz Gottes entweder durch Gott selbst eingenommen oder durch einen Platzhalter freigehalten werden muss, dass auf jeden Fall keine menschliche Erkenntnis und kein menschliches Konstrukt mit einem göttlichen Absolutheitsanspruch versehen werden darf. Denn das liefe in jedem Fall auf irgendeine Form der Tyrannei und der Unterdrückung des Menschen hinaus.
Die Postmoderne macht es uns schwerer, unsere relative Wahrheit für eine absolute zu halten, unsere Erkenntnisse und Theorien für etwas, das sozusagen wörtlich von Gott diktiert wäre. Das halte ich persönlich für einen Segen.
So unterstreicht die Postmoderne noch einmal, was wir im Grunde natürlich schon spätestens seit Immanuel Kant wissen: nämlich dass wir alle gar nicht anders können als die Wirklichkeit durch unsere subjektive Brille zu sehen, dass wir – ob wir es wollen oder nicht – an unserer Wahrnehmung auch konstruierend beteiligt sind. 
Diese subjektive Seite ernst zu nehmen, heißt freilich nicht, sie nun ihrerseits für das Absolute und buchstäblich für das einzig Wahre zu halten. Es heißt nicht, zu sagen: „Wahrheit, Werte oder Sinn sind nichts als subjektive Konstrukte, objektiv gibt es sie nicht, und deshalb ist es müßig, nach ihnen zu fragen und zu suchen und sich auf sie zu beziehen.“ Gerade für Logotherapeuten kann es und braucht es das nicht zu heißen.
Es gibt ein Element der Logotherapie, in dem beide Seiten (die empirisch zugängliche subjektive und die [von der praktischen Vernunft] postulierte objektive) zu ihrem Recht kommen können. Mit diesem Element meine ich den schon genannten „sokratischen Dialog“. Dabei würde ich dieses Element gern verstehen wollen nicht nur als eine Methode der Anwendung logotherapeutischer Erkenntnis, sondern als Element der Theorie selbst.
Sokratischer Dialog heißt: Fragen stellen – und nicht: Antworten diktieren. Es heißt auch: nach der Wahrheit fragen, durchaus mit Leidenschaft. Es heißt aber nicht: andern oder sich selbst diktieren, was die Wahrheit ist. Es heißt: die subjektive Seite ernst nehmen, und es heißt: ernst nehmen, dass ich nicht über die Wahrheit verfüge. Es verhält sich wie mit der Geburtshelferin: sie mag durchaus ihre persönlichen Wünsche darüber haben, ob das Kind, das geboren werden soll, ein Junge oder ein Mädchen sein wird. Aber Einfluss hat sie darauf nicht.
Wenn „sokratischer Dialog“ nicht nur als eine Methode der Gesprächsführung verstanden wird, sondern als eine logotherapeutische Grundhaltung, dann stellt sich auch die Frage: Inwieweit bin ich denn mir selbst ein sokratischer Dialogpartner? Oder inwieweit bin ich stattdessen mir selbst ein Papst, der mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit dieses zu glauben, zu denken und vielleicht auch zu fühlen gebietet und der mir jenes verbietet? Ich denke manchmal: Wenn ein Fundamentalist (gleich welcher Couleur) sich selber ein sokratischer Dialogpartner sein könnte, dann wäre er kein Fundamentalist mehr.

Es ist in der Geschichte der DGLE gelegentlich diskutiert worden über die Paradoxe Intention, speziell über die Frage, ob sie nicht eine im Prinzip logotherapiefremde Methode sei, die nur gleichsam zufällig im Repertoire der Logotherapeuten einen vergleichsweise großen Platz einnimmt, oder aber ob sie ihrem Wesen nach zum Wesen der Logotherapie gehöre. Und namentlich im Umkreis des Süddeutschen Instituts ist mit Nachdruck das Letztere betont worden. – Eine solche Diskussion würde ich mir wünschen über den Sokratischen Dialog. Und ich möchte dafür plädieren, ihn als ein Modell zu sehen, von dem aus der verstehende Zugang zu verschiedenen philosophischen Fragen sich dem Logotherapeuten erschließen kann. Das heißt: Sokratischer Dialog als hermeneutischer Schlüssel und zugleich als Prüfstein, um etwaige unsokratische Tendenzen bei uns selbst oder bei anderen zu korrigieren.
Ich wünsche mir, dass es der Postmoderne gelingen möge, uns dazu herauszufordern.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!